Beratung hat fertig – hoch lebe die Beratung!

published on 14 June 2024

Viele Berater*innen beschleicht im Lauf ihres Berufslebens das Gefühl der Sinnlosigkeit ihrer Arbeit.

Manche erkennen, dass Erfolg in der Beratung insbesondere den finanziellen Erfolg der beratenden Organisation bezeichnet – und nicht den inhaltlichen Erfolg der beratenen Organisation.

Andere Berater*innen kommen zu dem Schluss, dass sie im Wesentlichen dafür bezahlt werden, mehr schlecht als recht anonymisierte Geheimnisse zwischen Kunden hin- und herzutragen. Diese moderne Art des “Petzens” wird gern mit Euphemismen wie “best practices” oder “Erfahrungen in vergleichbaren Situationen” umschrieben.

Auch in der Forschung steigt die Kritik an traditioneller Beratung.

Die international anerkannte Volkswirtin Mariana Mazzucato hat in ihrem lesenswerten Buch “The Big Con” ausführlich dargestellt, welche Interessenkonflikte der Beratung innewohnen und welchen Schaden sie anrichtet, für das Gemeinwohl, aber auch für die beratenen Organisationen.

Häufig beinhalten die von Beratern vorgeschlagenen Lösungen den Einsatz weiterer Berater oder die Verlagerung relevanter Fähigkeiten an Dritte. Dadurch wird eine Feedback-Schleife erzeugt, in der immer mehr Externe das Wissen der Organisation aufsaugen. So wird den Mitarbeitenden der Organisation die Chance zur Weiterentwicklung genommen, was wiederum den Fachkräftemangel verschärft. Gleichzeitig steigt die Abhängigkeit von diesen Externen.

Insbesondere bei den sogenannten Big 4-Beratungen, die dank ihrer Marktmacht und der Breite ihres Portfolios in vielen Bereichen und bei vielen Kunden gleichzeitig beraten können, sind trotz strenger Compliance-Anforderungen Interessenkonflikte kaum zu vermeiden. In einigen Fällen waren diese so eklatant, dass handfeste öffentliche Skandalen daraus wurden. So lässt sich zumindest erahnen, welches Schadenspotenzial der Branche innewohnt.

Und was sagen die Kunden? Zum akuten Frust über schlechte Beratung gesellt sich zunehmend die Erkenntnis, dass sich die traditionelle Beratung überholt hat. So erschien im Wirtschaftsmagazin Capital schon 2019 ein Gastbeitrag, der unter dem Titel “Warum Unternehmensberater überflüssig sind” ausführlich dafür plädierte, dass Unternehmen sich vom “Szene-Chichi aus schicken Anzügen, elitärem Anstrich und veritablem Sprachgeschwurbel” nicht länger blenden lassen sollten. Viele der von Mitarbeitenden der Gesundheitsämter während der Corona-Pandemie gefundenen kreativen Lösungsstrategien waren sowohl effektiver als auch günstiger als die von teuren Beratern erarbeiteten Konzepte.

Doch bei aller berechtigten Kritik: Das eigentliche Ziel einer Beratung, nämlich mit “gutem Rat” beiseite zu stehen, ist ein hehres Ziel.

Und nicht nur das: Der Bedarf nach Beratung ist legitim. Und er ist immens!

In allen Bereichen der IT fehlen Fachkräfte, fehlen Expertinnen und Experten, die sich trauen, Antworten zu geben und dabei helfen, gute Entscheidungen zu treffen und diese auch umzusetzen. Es fehlt auch der strukturierte Erfahrungsaustausch zwischen Unternehmen. Beratung kann ein valider Ansatz sein, um bestehende Situationen zu verstehen, um den eigenen Tunnelblick mit einer fremden Meinung zu erweitern, um überhaupt erstmal mit einem Themengebiet vertraut zu werden und um mögliche Verbesserungen und die notwendigen Konsequenzen darzustellen.

Was also können wir tun, um zeitgemäße Beratung zum Wohle aller anzubieten? Was muss geschehen, damit “zum Wohle aller” keine leere Floskel ist, sondern tatsächlich alle umfasst: Kunden, Beratungshäuser, die Gesellschaft und die beteiligten Menschen auf allen Seiten?

Beratung muss sich radikal verändern. Aus “Consulting” muss “Unconsulting” werden. Unconsulting verfolgt das Ziel, Kunden aus der Abhängigkeit zu führen. Unconsulting geht offen mit Interessenkonflikten um. Unconsulting versucht, möglichst vielen Organisationen zu helfen, anstatt aus einzelnen möglichst viel Umsatz herauszuziehen. Unconsulting stellt die zwischenmenschliche Interaktion in den Mittelpunkt und nicht die Abschlußpräsentation. Unconsulting ermöglicht den direkten Austausch zwischen Organisationen.

So wie vor gut 20 Jahren das “Agile Software Development Manifesto” aus dem Frust über ausufernd bürokratische, realitätsverweigernde, überverplante und fehldokumentierte Softwareprojekte heraus einen positiven Impuls zu radikaler Veränderung setzte, so wollen auch wir einen positiven Veränderungsimpuls in das verkrustete Geschäft mit der Expert Guidance setzen. Unsere Prinzipien und Überzeugungen haben wir im “Unconsultancy Manifesto” zusammengestellt, das wir heute veröffentlichen. Ihr findet es hier: www.unconsultancy.org.

Das ist unser erster Aufschlag, den wir im Sinne von #buildInPublic aus voller Überzeugung veröffentlichen.

Und wir sind ebenso überzeugt, dass das Manifesto und dass die Bewegung mit eurer Hilfe und eurem Feedback noch besser werden kann! Wir veröffentlichen das Manifest  in der Hoffnung, damit einen Beitrag für mehr Purpose, Impact, Fairness und Transparenz in der Beratung zu leisten.

Dror-John Röcher & David Fuhr, Juni 2024

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