Transparenz bis es weh tut

published on 10 June 2024

In einem Anflug von Nostalgie erinnert man sich vielleicht an eine Situation in der frühen Kindheit, als die Eltern einen zwischen dem gesunden Vollkornkeks und dem süßen, zuckerhaltigen Original „wählen“ lassen wollten. Sie nahmen einen Bissen und sagten: „Mhhh, schmeckt genauso gut wie der andere!“. Auch wenn man es als Kind nicht artikulieren konnte, hatte man das Gefühl, dass man auf der Grundlage unvollständiger Informationen zu einer Entscheidung gegen die eigene natürliche Wahl gedrängt werden sollte. Natürlich gibt es gute Gründe, sich für gesunde statt für zuckerhaltige Lebensmittel zu entscheiden, doch diese wurde nicht erklärt, sondern man wurde mit vorgefertigten und teilweise falschen Annahmen versorgt, die man sich nicht selbst bilden sollte.

In der Kindererziehung ist der Umgang mit einer solchen Situation bis zu einem gewissen Grad zulässig. Die Vorteile zu verstehen, die es mit sich bringt, die langfristige Gesundheit über kurzfristige Belohnungen zu stellen, wäre je nach Alter des Kindes zu komplex. In den Unternehmen von heute hat man es jedoch in der Regel mit Erwachsenen zu tun. Was hat das mit Transparenz zu tun? Die obige Anekdote zeigt, dass Menschen in der Regel zumindest ein „Gefühl“ dafür haben, wenn versucht wird, sie auf der Grundlage unvollständiger oder fehlerhafter Informationen zu einer vorgefertigten Entscheidung zu manipulieren.

Transparenz kann bei der Entscheidungsfindung schaden

In einer Organisation müssen jedoch täglich Entscheidungen getroffen werden. Viele davon betreffen die Entscheidungsträger:innen und den Rest der Organisation. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Unternehmen aus strengen oder flachen Hierarchien besteht. Als Entscheidungsträger:in hat man immer den Impuls, die Informationen, die als Grundlage für die Entscheidung dienten, im Unklaren zu lassen. Dafür kann es mehrere Gründe geben, von denen einige stichhaltiger sind als andere. Ein zentraler Punkt ist jedoch, die Entscheidung nicht erneut zur Diskussion zu stellen, weil man befürchtet, dass jemand anderes auf der Grundlage derselben Informationen zu einem anderen Schluss kommen könnte. Aber auch wenn Menschen nicht die ganze Herleitung zu ihrer Entscheidung wiedergeben wollen, besteht oft der Drang, diese Lücke mit einer etwas oberflächlichen, halbwahren und letztlich nicht ehrlichen Erklärung zu füllen.

Es kann sein, dass die Menschen eine Entscheidung aufgrund von Hierarchien akzeptieren müssen. Daher mag ein Mangel an Transparenz und Beschönigung zunächst pragmatisch erscheinen. „Jetzt habt ihr eine Erklärung, also lasst mich nun bitte in Ruhe”. Aber, um auf die Anekdote aus der Kindheit zurückzukommen, neigen Menschen dazu, einen natürlichen Sensor dafür zu haben, wenn ihnen Teile der eigentlichen Argumentation vorenthalten werden. Sie könnten sogar das Gefühl haben, nicht ernst genommen zu werden, was es noch schwieriger macht, eine Entscheidung zu akzeptieren, mit der sie von vornherein nicht einverstanden waren. Die Ehrlichkeit der initialen Erklärung gibt jedoch den Ton für die folgende Diskussion an. Wenn es keine angemessenen Informationen über die Beweggründe einer Entscheidung gibt, sind die Gegenargumente meist von der gleichen Qualität. Die mangelnde Transparenz einer getroffenen Entscheidung rechtfertigt diese zwar nicht, birgt aber die Gefahr, einen Konflikt zu provozieren, der ins Leere läuft, weil sich niemand mehr über den eigentlichen Gegenstand der Debatte streiten kann. Hier gibt es keine Gewinner:innen.

Die Überschrift war gelogen: Transparenz schadet tatsächlich nicht

Menschen neigen dazu, eine Entscheidung leichter zu akzeptieren, auch wenn sie nicht ganz damit einverstanden sind, wenn sie sich ernst genommen fühlen. Transparenz ist in diesem Fall nicht nur die angemessenere Art des Umgangs unter Erwachsenen, sondern auch pragmatischer. Die Beweggründe vorzuenthalten oder nur in Teilen zu kommunizieren mag auf den ersten Blick einfach erscheinen, kann aber auf lange Sicht viel mehr Energie verbrauchen.

Es gibt viele weitere gute Gründe für Transparenz. Vor allem in flachen Hierarchien ist es wichtig, dass jede:r genügend Informationen erhält, um fundierte Entscheidungen treffen zu können. Andernfalls würde eine flache Hierarchie zu einer Karikatur werden und lediglich dazu dienen, Verantwortung abzuschieben. Umgekehrt ermöglichen Transparenz und Informationen, dass Verantwortung übernommen werde kann und Lösungen mit dem Blick auf das große Ganze kreativ entwickelt werden können.

Auch wenn Transparenz anfangs etwas Aufwand zu bedeuten scheint, vor allem in einer Organisation, sollte das Potenzial nicht unterschätzt werden, das entsteht, wenn Menschen Informationen konstruktiv nutzen (können). Die Transparenz “zu leben” birgt weniger Risiken, als es auf den ersten Blick scheint, aber ein großes Potenzial, das es zu erschließen gilt.

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